Die Erforschung neuer Funktionsmaterialien beinhaltet auch die Realisierung künstlicher Strukturen, wie sie z. B. in Metamaterialien mit ungewöhnlichen optischen und elektrischen Eigenschaften vorkommen oder das Gebiet der Soft Robotics und künstlicher Muskeln. Dabei gehen moderne Forschungsansätze, welche u.a. Selbstorganisation und Begrenzungseffekte (Confinement effects) nützen, weit über die klassische chemische Synthese auf molekularer Ebene hinaus. Unter Selbstorganisation versteht man die spontane Entstehung räumlich-zeitlicher Strukturen und Muster als Resultat der Interaktion kleinerer Einheiten. Oft geschieht diese Selbstorganisation unter Einfluss äußerer oder innerer Begrenzungseffekte. Als Begrenzung wird dabei ein Einwirken auf ein System, welches die translatorischen und rotatorischen Freiheitsgrade seiner Einheiten einschränkt, gesehen.
Der Begriff „Stimulus-responsiv“ bezieht sich auf Materialien, die eine Veränderung ihrer Eigenschaften erfahren, wenn sie einer Veränderung der äußeren Umgebung (einem Stimulus) ausgesetzt werden. Im Idealfall reagiert dabei ein Material auf einen Stimulus reversibel sowie orts- und zeitaufgelöst. Beispiele sind Soft Matter Materials, bei denen vergleichsweise kleine externe Stimuli zu großen Änderungen auf makroskopischen Längenskalen führen. In einem Flüssigkristalldisplay (LCD) reicht eine elektrische Spannung von wenigen Volt, um die stäbchenförmigen Moleküle eines Flüssigkristalls umzuorientieren.
Moderne Funktionsmaterialien mit maßgeschneiderten mechanischen, optischen, elektrischen oder magnetischen Eigenschaften erfordern somit neben molekular präzisen Synthesemethoden auch die Nutzung (intrinsischer) Selbstorganisation (Self-Assembly) und Begrenzungseffekte sowie die Anwendung von Simulationstechnologien zur Erlangung von Kenntnissen, die sich aus Daten aus Sensoren, digitalisierten Sammlungen, Experimenten und Simulationen ergeben. Hier spielt der Exzellenzcluster SimTech eine bedeutende Rolle.
Ein Forschungsschwerpunkt liegt hier in der Verwendung von Materialien auf Basis weicher Materie (Soft Matter Materials); dazu zählen u.a. Polymerschmelzen und -lösungen, Polymergele, elektronisch und ionisch leitfähige Polymere (gemischte Halbleiter), polymere Schäume, Fasern und Elektrolyte, Elastomere, Flüssigkristalle, Kolloide und Tenside. In der Synthese maßgeschneiderter polymerer Materialien spielen dabei katalytische Polymerisationen eine zentrale Rolle. Im Lichte dieser Anforderungen basiert der Forschungsansatz der Fakultät Chemie zu solchen Funktionsmaterialien auf einem intensiven, synergistischen Zusammenspiel von Chemie, Materialwissenschaft und Simulation.
Stimulus-responsive Materialien sind u.a. die Grundlage für sensorische bzw. aktorische Systeme. Sensorische Materialien reagieren selektiv und empfindlich auf physikalische oder chemische Eingangsgrößen wie z.B. Licht, Wärme, Bewegung, Feuchtigkeit, Druck, pH-Wert oder spezifische chemische Verbindungen. Die Kombination von elektrischen Stimuli und ionischen Wechselwirkungen ist von großem Interesse für Anwendungen in der Bioelektronik (z.B. als organische elektrochemische Transistoren) und Medizintechnik. Unter Aktoren versteht man Systeme bzw. Materialien, die z.B. elektrische Signale in mechanische Bewegungen oder andere nichtelektrische Größen (z.B. Druck, Temperatur) umsetzen oder umgekehrt mechanische Bewegung in elektrische Signale umwandeln (z.B. konjugierte oder piezoelektrische Polymere, ferroelektrische Flüssigkristalle, elektrisch oder magnetisch responsive organisch/anorganische Hybridmaterialien). Sowohl sensorische als auch aktorische Systeme sind zentral für aktuelle Forschungsinitiativen, wie das GRK 2948 (“Gemischter Ionen-Elektronentransport: Von den Grundlagen zur Anwendung“) als auch der Exzellenzclusterantrag „Bionic Intelligence for Health“. Sie sind im neuen Profilbereich der Universität Stuttgart „Biomedizinische Systeme and Robotics for Health“ und dem neugegründeten Zentrum für Bionic Intelligence Tübingen-Stuttgart (BITS) verankert.
Begrenzungseffekte, die z. B. bei katalytischen Reaktionen in maßgeschneiderten mesoporösen anorganischen oder polymeren Materialien mit definierten, dirigierenden Geometrien beobachtet werden, sind auch das zentrale Thema des laufenden Sonderforschungsbereichs SFB 1333 „Molecular heterogeneous catalysis in confined geometries“. Zur Realisierung hierarchisch strukturierter Architekturen mit dirigierenden Eigenschaften sowie Stimulus-responsiver Materialien kommen schließlich auch bioinspirierte Ansätze zur Anwendung wie sie u.a. im Rahmen des Projekts "ChitinFluid", gefördert durch die Carl-Zeiss-Stiftung, erforscht werden.